Das Lächeln
Der ganze Ort ist schon erwacht;
es ist am Morgen, 3 nach 8,
man sieht es auf der Kirchturmuhr.
Erwacht ist rings auch die Natur,
sind Himmel, Wald und Heide,
die Kühe auf der Weide.
Der Zug, den ihr ganz hinten seht,
ist heute ein klein wenig spät.
(Sonst kommt er pünktlich 8 Uhr 02
am Kirchturm oben rechts vorbei.) –
Was sonst?: Die Zeitung liest der Vater,
vorm off‘nen Fenster liegt der Kater,
ganz unten, froh und wohlgesinnt,
hüpft übers Seil — wer sieht’s?— ein Kind.
Und hinter ihm, da geht Herr Kraus
mit einem Lächeln aus dem Haus.
Hier sieht man seinen Lächelmund.
Er lächelt ohne Zweck und Grund,
nur einfach so,
weil er vergnügt ist, gut und froh;
es lächeln Brille, Nas’ und Ohr,
Herr Kraus hat wirklich viel Humor.
Wir sehn, der Mund ist leicht gebogen,
weil seine Winkel hochgezogen.
Da stößt er auf Frau Habermann,
die Zeitungsfrau von nebenan.
Obwohl gerade mißgestimmt.
sie nun sein Lächeln übernimmt.
Und gibt das Lächeln, jetzt auch heiter,
an den Paketzusteller weiter.
Der an die Bäckersfrau und die
an ihre Tochter Stefanie.
Die an Frau Baum vom Kinderhort,
die an Klein-Uwe — und so fort.
So kommt das Lächeln irgendwann
am Abend auf dem Marktplatz an.
Es ist, hierdurch gut aufgelegt,
Herr Schmitz, der es gerade trägt;
viel glücklicher und frohgesinnter,
verkauft er Luftballons an Kinder,
doch vorerst — aus demselben Grund —
vergnügt er sich mit einem Hund.
Am Marktplatz steht ein Polizist,
der ziemlich ernst und mürrisch ist,
den Zeigefinger streng erhoben,
die Mütze ins Gesicht geschoben,
so tief und abgeschirmt, daß man
die Augen nicht erkennen kann
und man bei näherem Betrachten sieht,
wie alles nun nach unten zieht
— jeweils auf seine eig’ne Art — :
der Mützenschirm, der Mund, der Bart.
So, mit versteinertem Gesicht,
er manches „ernste Wörtlein“ spricht.
Doch lächelt jetzt in heitrer Ruh’
Herr Schmitz dem ernsten Schutzmann zu.
Man sieht’s, und mitten im Verkehr
— tatsächlich! — lächelt nun auch er;
man merkt’s nicht, weil im Mund er statt
des Lächelns eine Pfeife hat.
Da kommt gerad’ Herr Kraus gegangen,
mit dem das Lächeln angefangen.
Herr Kraus — herrje! — jetzt ganz verkehrt
die Straßenkreuzung überquert.
Mit hochgezog’nen Augenbrauen
sieht man die Leute nach ihm schauen.
Der Schutzmann — welch ein Unterschied! —
der lächelt nur, als er es sieht,
und weil die Stimmung jetzt gehoben,
hat er die Mütze hochgeschoben.
Und selbst nicht ernst, er mit dem Mann
kein „ernstes Wörtlein“ reden kann.
Da dieser alt und schwächlich war,
nimmt er ihn sacht am Arm sogar
und hält für ihn die Autos an,
damit er sicher gehen kann.
Herr Kraus deshalb recht wohlgemut,
lüpft still und freundlich seinen Hut.
Wir hoffen, daß man unentwegt
das Lächeln nun so weiterträgt:
Zum Kleinen und zum Großen Belt,
und schließlich um die ganze Welt,
per Flugzeug, Schiff und Eisenbahn,
durch Rußland und durch Pakistan,
durch Thailand, China und so weiter,
und alle werden dadurch heiter!
Vielleicht kehrt, da die Erde rund,
zu uns zurück der Lächel-Mund.
(aus: Otto Heinrich Kühner, Mary Rahn (Illustrationen): Das Lächeln. Hanau, Salzburg, Bern: Dr. Hans Peter Verlag 1991)