Die Unterschrift meiner Mutter
Meine Mutter war immer stolz darauf, dass ihre Unterschrift nicht gefälscht werden kann. Sie schrieb den Anfangsbuchstaben ihres Vornamens einen Punkt und ihren Nachnamen, der ein anderer war als meiner in geschwungenen Druckbuchstaben von links nach rechts setzte kurz dahinter wieder an und schrieb von rechts nach links den selben Namen in einer anderen Schrift einer anderen Sprache darunter. ´
Ich weiß echt nicht, los ist mit mir in letzter Zeit. Ich bin konstant hin und her gerissen zwischen dem Gefühl die Stimme meiner Zeit sein zu müssen, oder alles niederzubrennen zu wollen, das zu meiner Zeit dazuzählt. Ich stehe konstant vor der Frage ob ich Entscheidungen wegen oder trotz treffe. Wegen oder trotz, fügen Sie Kontextualisierung ein: Alter, Klasse, Ethnizität, Geschlecht. Fügen Sie persönlichen Werdegang ein: heartbreak, heartbreak, so much heartbreak. Fügen Sie Überzeichnung ein.
Ich weiß echt nicht, was los ist mit mir in letzter Zeit. Ich suche konstant nach wegen mich selbst auseinander zu nehmen, um zu verstehen, was ich bin, doch fürchte mir davor, es tatsächlich zu tun. Doch ich kann mir vorstellen, wie ich es mache: Ich lege mir die Finger auf die Augen, und drücke. Drücke so stark, bis die Augäpfel, die doch nie satt gemacht haben, aus den Ohren wieder herausquellen, soweit das Auge reicht. So viele Öffnungen am menschlichen Körper doch das Eigentliche, das was echt ist, bleibt doch unter Verschluss in den Windungen des Darms, oder geht verloren, wird verätzt im Fegefeuer des unruhigen Magens. Ich wünschte ich könnte in mich hineingreifen und das, was sich mir als Essenz darbietet herausreißen: Die Gebärmutter blutet sechs Tage. Sechs Tage an denen sie nichts erschafft. Am siebten Tag ruht sie. Aber das ist keine Regel.
Unter den lateinischen Buchstaben, die ihren Nachnamen bilden, der ein anderer ist als meiner, schreibt meine Mutter Persisch mit einer feinen Handschrift, die ich noch immer nicht entziffern kann. „Das kann niemals jemand fälschen!“, sagt sie dann stolz.
In dem diffusen Licht, das durch das Handydisplay auf sein Gesicht geworfen wird, erscheint er mir wie das Leben aus einer anderen Zeit. Er will nichts von dem wissen, das ich ihm da zeige, fingerfettbefleckter Touchscreen, die Verlängerung meines Arms. Es interessiere ihn nicht, er bevorzuge das echte Leben. Dabei halte ich die ganze Welt in meiner Hand. Hier mein Richtwerk, wenn ich nach Gut oder Böse frage, wahr oder falsch. Und doch frage ich mich manchmal angesichts des bunten Kreises, der meine neueste Instagram Story umrahmt, ob ich endlich wissen werde, was echt ist, wenn ich alle Bücher gelesen, alle Tweets, alle Posts, alle Artikel durchgescrollt habe. Ich frage mich, ist die Wahrheit am Ende eines Newsfeeds. Befindet sich da etwas Neues? Wenn ich schreiben will, frage ich mich, wie lange ich den Finger auf der Backspacetaste halten kann und ob dann wirklich die ganze Geschichte verschwindet. Wie viel Reim braucht mein Gedicht, bis ich ihm selbst auf den Leim gehe? Ich habe nichts Echtes zu erzählen. Dabei schwitzen selbst die Fenster in meinem Zimmer am Morgen noch die Nacht aus. Nichts hält mich wach des nachts. Nichts. Kein Lied, das an der Hirnrinde entlang gespielt werden will, kein Text, der in Tasten getippt, auf Papier geschrieben, an Wände gesprüht werden will. Nichts hält mich wach des nachts. Vor allem nicht, wenn das Auf und Ab der Brust des Geliebten es leicht macht, die letzten Reels zu vergessen.
Ich weiß echt nicht, was los ist mit mir in letzter Zeit. Ich bin konstant verzettelt, wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, weil ich mir vorerst ein Bild von meinem Gegenüber machen muss. Ich muss wissen, wie ich antworten kann, welches Vokabular angebracht ist, welche Online Zeitung zu Rate gezogen werden kann —
Ich weiß echt nicht, was echt ist.
Ich glaube gar nichts.
Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre zu zeigen, dass nichts echt ist.
Ich dachte darüber nach auf die Bühne zu gehen und von einem Zettel zu lesen.
Ich würde alles gewissenhaft ablesen von dem Zettel, was wäre egal.
Ich würde dann aufschauen.
Ich würde Bedeutung in meinen Blick legen, wenn ich das Publikum anvisiere (ich kann das sehr gut)
Ich würde alles inszenieren.
Ich würde alles genau so meinen. Ich will ganz ehrlich mit dir sein. Ich will dir wirklich alles von mir sagen. Und wenn ich dann ganz ehrlich bin, dann weiß ich selbst nicht ob ich komme, oder ob ich es nur vortäusche. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob mein Stöhnen echt ist, oder ob ich mir selbst damit Lust machen will und das gilt wirklich für alles. Jeden Morgen denke ich mir das, jedes mal, wenn ich mir den schwarzen Kaffee reinkippe und mir sage, dass er mir genau so schmeckt.
Erst kürzlich brachte ich es über mich, meiner Mutter zu erklären, dass ich unter Klassenarbeiten und Vokabeltests ihre Unterschrift nachgefahren, sie nachgeahmt, sie gefälscht habe. Ich wollte ihr nicht das Herz brechen. Aber die Wahrheit war, dass niemand erkennt, was da steht in der anderen Schrift. Niemand kennt sie. Und für Augen, die nichts kennen, ist alles echt.
© Tanasgol Sabbagh, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin
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